Kann ich mit einem Kartenspiel das Fechten lernen? Das klingt provokant, aber manchmal ist das tatsächlich möglich. Ein solches Spiel möchte ich euch heute vorstellen - samt den Lehren, die man daraus für den echten Assaut, mit Eisen in der Hand, ziehen kann.
Das Spiel, das ich meine, nennt sich "En Garde", simuliert passenderweise ein Duell, und wurde 1993 veröffentlicht. In die Zeitmaschine: 2020 kommt der Fechtsport zu einem plötzlichen Stopp: Corona verhindert das Kreuzen der Klingen. Doch die Vereine und Verbände sind kreativ - die Classical Academy of Arms bot eine Handvoll "En Garde" Tournaments für ihre Mitglieder. Das bot sich an, denn alles was man benötigt sind 25 nummerierte Karten und eine Gefechtsbahn. Die Karten kann man auch virtuell verteilen, die Bahnen kann sich jeder Teilnehmer selbst ausdrucken.
Nun haben wir nicht die vollständigen Regeln gespielt, sondern vielmehr eine stark vereinfachte Variante. Sie ist schnell erklärt.
Die Regeln
Die Fechtbahn ist in 23 Felder unterteilt, beide Spieler beginnen an den jeweils äußersten Feldern. Die Karten haben die Werte 1-5, es gibt jeweils 5 davon. Sie werden gemischt und jeder Spieler bekommt verdeckt 5 Karten.
Abwechselnd können nun die Spieler eine Karte ausspielen: Den Wert der Karte können sie ihre Figur zum Gegner hin oder von ihm weg bewegen. Landet eine Figur dabei auf der anderen Figur, ist das ein Angriff und der Angreifer gewinnt das Spiel (Paraden gibt es in dieser einfachen Version nicht). Eine ausgespielte Karte wird vom Aufnahmestapel ersetzt.
Man darf nicht aus der Fechtbahn hinaustreten und auch nicht die andere Figur überspringen. Sind die Karten alle gespielt und es ist kein Treffer gefallen, hat man ein Unentschieden. Kann ein Spieler keine Karte mehr spielen obwohl er noch welche besitzt, verliert er ebenfalls.
Was will man denn davon lernen?
Das sind schon sehr primitive Regeln, kann man davon überhaupt etwas lernen? Nun, das interessante ist, dass man - wie im echten Fechten auch - schrittweise erkennt, welche taktischen Möglichkeiten man tatsächlich hat. Der Anfänger ficht mechanisch, meist ohne großen taktischen Ansatz. Später lernt er, den Gegner zu beobachten und stellt sich auf ihn ein. Und schließlich erkennt er, dass auch er selbst beobachtet wird, und das in seine Überlegungen einberechnen muss.
Mensur
Das erste, was man bemerkt, ist die Relevanz der Mensur, also des Abstandes zwischen den Fechtern. Meist leuchtet das ein, wenn man die erste Partie des Kartenspiels verloren hat, weil man sich zu weit nach vorne gewagt hat und der Gegner die passende Karte für einen Angriff auf der Hand hatte.
Mit der Waffe in der Hand ist es nicht anders. Schon im Rapier wurde die Mensur als eine der drei Grundpfeiler des Fechtens gehandelt - die anderen beiden wären Technik und Tempo. [1] Überlegt und geplant wird am besten in weiter Mensur. Erst wenn ich einen Plan gefasst habe, wage ich mich in die mittlere Mensur vor. Befinde ich mich ständig in Reichweite meines Gegners, riskiere ich, unvorbereitet angegriffen zu werden.
Scandaglio oder "Ausforschen"
Einen Plan brauchen wir also, bevor wir die Mensur schließen... Aber welchen? Die Möglichkeiten zum Angriff sind ja sehr begrenzt. Die wichtige Beobachtung ist dann: Sie sind auch für den Gegner begrenzt. Der kann nur so agieren, wie seine Karten es zulassen. Die Karten, die gefallen sind, kann ich aber zählen. Und wenn bereits drei 2er gefallen sind und ich die übrigen auf der Hand habe, kann ich mich in die mittlere Mensur, zwei Felder vor meinen Gegner wagen.
Die selbe Vorgehensweise ist auch auf der Fechtbahn notwendig. Mein Gegner hat zwar keine Karten, aber Gewohnheiten, Stärken und Schwächen. Bevor ich einen ernsthaften Angriff riskiere, werde ich ihn ein wenig ausforschen: Hier einen halbherzigen Angriff simulieren, dort eine bewusste Gelegenheit bieten. Und schauen wie er reagiert. Stelle ich dann z.B. fest, dass er nie mit Quart, sondern immer nur mit Kreissterz pariert, dann kann ich das im Anschluss für eine Finte verwenden.
Tempo
Für die Italiener bedeutete Tempo einfach "Gelegenheit". Und eine solche Gelegenheit bietet sich uns im Spiel ebenfalls. Ein Beispiel: Zwischen mir und meinem Gegner sind 9 freie Felder und mein Gegner ist am Zug. Nun macht es am meisten Sinn für meinen Gegner, eine 4 zu spielen - dann ist er mir so nah, dass ich nicht gefahrlos weiter vorrücken kann, aber zu weit, um selbst angegriffen zu werden (interessanterweise bezeichnet Barbasetti diesen Abstand als die "richtige Mensur"). [2] Spielt er eine andere Karte, dann stehen die Chancen gut, dass er einfach keine 4 auf der Hand hatte! Die Möglichkeit besteht zwar, dass er im Anschluss eine 4 gezogen hat, aber ich kann es nun durchaus riskieren, mich ihm auf 4 Felder in die mittlere Mensur zu nähern.
Tempo im Fechten ist nicht viel anders. Eine Gelegenheit bietet sich, wenn der Gegner unvorsichtig ist oder seine Absicht verrät. Auch hier ist diese Gelegenheit schnell vorbei, und wir müssen sie sofort ergreifen wenn wir sie nutzen möchten. Das Resultat ist der klassische "Stoß ins Tempo". Und auch hier geht man damit ein gewisses Risiko ein - vor allem wenn der Gegner schlecht geschult ist. Hat man sich verrechnet, droht ein Doppeltreffer. Stimmt jedoch alles, sind Tempostöße die elegantesten Aktionen, die das Fechten zu bieten hat!
"Man beschränke daher diese Art Stösse nur auf die sichersten Fälle und betrachte sie als eine Blüte der Fechtkunst, der man nicht durch Missbrauch ihren Wert rauben darf." Luigi Barbasetti, 1900
Zweite Absicht
Ich weiß, den erfahrenen Fechten brennt es schon auf der Zunge: Ein schlecht geschulter Gegner ist nicht die einzige Gefahr des Tempostoßes... Kann der Gegner denn nicht einfach einen Fehler oder ein vorhersagbares Verhalten vortäuschen?
Begeben wir uns in die obige Situation, in das Kartenspiel, in die Rolle des Gegners. Vielleicht habe ich ja eine 4 auf der Hand. Aber wenn ich meinem Gegner subtil vorgaukle, ich hätte sie nicht, dann wagt er sich vielleicht auf 4 Felder an mich heran. Und dann greife ich ihn mit meiner 4 an.
So darf und sollte ich auch mit dem Degen in der Hand denken. Ich simuliere einen Fehler. Einen kurzen Moment der Unaufmerksamkeit. Vielleicht versuche ich eine Bindung beim Schritt vorwärts, oder ich stelle mich müde und und greife mit zu tiefer Faust an. In dem Moment aber, in dem mein Gegner daraus einen Vorteil ziehen will - da ist von Müdigkeit keine Spur mehr, und der Schritt vorwärts war haargenau berechnet um kurz außerhalb der Reichweite zu stoppen! Der Angriff wird pariert und blitzschnell ripostiert. Da sind wir schon in der hohen Schule angelangt.
Anpassung an den Gegner
Wir verlangen von unserem Gegner ja schon allerhand - im Spiel wie auch im Gefecht. Wer sagt denn, dass unser Gegner seine Züge wirklich auf einer wohlüberlegten Strategie basiert? Er könnte die 4 nicht spielen weil er keine hat. Oder er hat einfach keinen größeren Plan und macht... irgendwas. Wenn wir dann aus seinem Verhalten falsche Schlüsse ziehen, laufen wir ihm ins Messer.
Das verhält sich auf der Fechtbahn nicht anders. Natürlich kann ich meinem Gegner subtil suggerieren, eine Aktion ins Tempo durchführen zu wollen, um dann auf seinen Angriff in zweiter Absicht mit einer Finte ins Tempo zu reagieren. Aber wenn mein Gegner dem ganzen Vorgang nicht folgen kann, dann ist mein Versuch zum Scheitern verurteilt. Irgendwann wird mein Gegner vor Überforderung einfach den Spieß reinstellen - und vermutlich auch noch treffen. Was lernen wir daraus? Was auch immer wir tun muss an die Fähigkeiten unseres Gegners angepasst sein. Man besiegt den Gegner, indem man versteht, auf welchem Niveau er ficht, und dann leicht darüber agiert.
Gibt's noch mehr?
Man könnte noch mehr Parallelen zum physikalischen Fechten ziehen: Dem Verbergen der eigenen Absicht oder der Wichtigkeit, den gewonnenen Boden zu verteidigen. Aber diese Übung überlasse ich euch.
Wer sich das Spiel einmal genauer ansehen möchte, der kann sich die Regeln auf Brettspielnetz.de ansehen. Da gibt es dann freilich noch mehr Optionen als sich treffen zu lassen: Man kann auch parieren oder zusammengesetzte Angriffe starten. Und wie im echten Fechten... Je mehr Erfahrung man gesammelt hat, je taktischer man agieren kann, desto mehr Spaß macht es!
Quellen
Francesco A. Marcelli, "Regole della Scherma", 1686. Marcelli beschreibt wie vielleicht kein anderer italienischer Rapiermeister das Zusammenspiel und die Struktur der späten Rapierfechtkunst.
Luigi Barbasetti, "Das Stossfechten", 1900.
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