Welche Schule ist es nun, die allen anderen überlegen ist? Im letzten Blogartikel haben wir uns diese Frage gestellt und schon einige Sackgassen hinter uns gelassen. Ganz umsonst war der Weg jedoch nicht: Wir haben festgestellt, dass eine gute Schule auch effizient erlernbar und nicht nur für Vollzeit-Fechter mit jahrelanger Erfahrung nutzbar sein muss. Die perfekte Schule haben wir aber (noch) nicht gefunden... Deswegen geht's heute weiter mit der Frage, was die beste Fechtschule ausmacht.
Technik-Sammlung oder System?
Blasco Florio veröffentlicht 1844 ein Buch zum Stoßfechten. Stolze 250 Seiten, kleine Schrift - eine regelrechte Enzyklopädie italienischer Fechtkunst [1]. Aber ist mehr wirklich besser? Auf den ersten Blick bietet eine Schule mit einer riesigen Auswahl an Aktionen sicher Vorteile: Man kann sich die besten Aktionen heraussuchen. Wenn meine Enzyklopädie nun auch noch verschiedene nationale Schulen zusammenfasst, dann muss ich weder auf die Coupés der Franzosen, noch auf die Gegenangriffe der Italiener verzichten.
Aber... beherrscht man dann auch jede Aktion dieser Techniksammlung? Wohl kaum. In der Praxis tritt dann einer der folgenden Fälle auf:
A) Ich kann jede Aktion ein bisschen.
Wirklich geschliffen sind die Aktionen dann nicht. Das bedeutet, dass es dem Gegner in der Regel nicht schwerfällt, sie zu parieren. Das Fechten verfällt dann zu einer Jagd nach "Tricks", also Techniken, die der Gegner einfach noch nicht kennt und die durch den Überraschungseffekt auch technisch "hölzern" funktionieren [2]. Das Problem ist freilich, dass man damit pro Aktion einen, vielleicht zwei Versuche erhält. Dann kennt der Gegner die Aktion und stellt sich darauf ein.
Das ist, als würde man nur mit Wurfspeeren bewaffnet in die Schlacht ziehen. Irgendwann sind alle Speere geworfen. Entsprechend ist diese Strategie eher gegen weniger erfahrene Gegner geeignet. Ein guter Fechter wird man dadurch nicht - besser ist es, die Menge an Aktionen zu reduzieren, und die wenigen Aktionen dann zu perfektionieren und taktisch variabel einzusetzen. Das ist, was das Fechten eigentlich ausmacht.
B) Ich stelle mir selbst mein individuelles System zusammen
Das ist eine machbare Option. Die alten Schulen bringen auf der anderen Seite den Vorteil, dass die einzelnen Techniken perfekt zusammenpassen, sich ergänzen, ja teilweise exakt für das Zusammenspiel entwickelt wurden. Umgekehrt kann man argumentieren, dass nicht jede Technik in jedem Kontext auch gut funktioniert, es sei denn, man passt sie explizit an [2]. Ein Beispiel sind die späten italienischen Riposten - sie bauen darauf, dass die Klinge nach der Parade passé ist, die Klinge also gefahrlos gelöst werden kann. Pariere ich mit Schritt rückwärts, ist das nicht mehr der Fall, und die Riposte wird (mit der scharfen Waffe) ein Glücksspiel.
Man profitiert also davon, das Rad nicht neu zu erfinden. Und wenn ich trotzdem auf die ein oder andere Technik nicht verzichten möchte... Lerne ich nach meiner ersten Schule eine zweite.
Ein Merkmal der idealen Fechtschule ist also - vielleicht überraschend: Die Aktionen müssen begrenzt, überschaubar sein.
"Ich fürchte nicht den Mann, der 10.000 Kicks einmal geübt hat, aber ich fürchte mich vor dem, der einen Kick 10.000 mal geübt hat." Bruce Lee
Eine Frage des Kontextes
Was würden die damaligen Fechter antworten, wenn man sie fragen würde, welche die beste Schule wäre? Sie würden vermutlich alle etwas anders antworten (selbst wenn sie nicht aus Patriotismus direkt die eigene, nationale Schule nennen), denn: Sie nutzten die Fechtkunst in unterschiedlichen Kontexten.
Eine einzige, universelle Fechtschule gab es nie. Alle machen zumindest in gewissem Maße Annahmen über ihren Einsatz. Beispiele dafür finden sich schon im Mittelalter: Der Schwertgriff zu Pferde? Ein kürzerer Griff. Zu Fuß dagegen durfte er auch länger sein, um mit zwei Händen geführt zu werden. Kommt jetzt jedoch Panzerung dazu, dann wird dasselbe Schwert mehr zum Hebel - eine ganz andere Kampfesweise. Oder es muss gleich das Estoc her, der "Panzerbrecher", ein dreikantiges Schwert, das praktisch nur zum Stoß und zum Hebeln zu gebrauchen war [3].
Beim Degen mag das auf den ersten Blick nicht so ersichtlich sein, stimmt aber auch dort.
Im Kontext des Duells verlässt sich die Schule auf die Garantien und Gepflogenheiten des Kodex. Wenn mein Kodex Aktionen mit der linken Hand oder dem Parierdolch erlaubt, dann sollte ich diese auf jeden Fall in meinem System haben. Erlaubt er den Linkhanddolch nicht, dann kann ich Techniken einsetzen, auf die ich sonst aus Sicherheitsgründen verzichten müsste. Ein Beispiel ist der Ausfall mit dem Profilieren des Oberkörpers, wie wir ihn heute kennen. Riskant, wenn mit Rapier und Parierdolch ausgeführt. Ein Garant für Sicherheit, wenn kein Parierdolch im Spiel ist [4]. Und natürlich kann ich mich auf das Gefecht Degen gegen Degen konzentrieren und spezialisieren.
Im Kontext Straßenkampf muss ich mit mehreren Waffenarten klar kommen. Auch mehrere Gegner aus verschiedenen Richtungen sollten mich nicht überfordern. Das verlangt andere Fähigkeiten - auf der anderen Seite zahle ich für diese Universalität mit Tiefe, die Fechtaktionen werden technisch und vor allem taktisch nicht so ausgefeilt sein wie in der Duellschule.
Kontext Krieg: Mannstoppwirkung. Der Angriff muss den Gegner schnell gefechtsunfähig machen - wie tödlich der Hieb ist, ist zweitrangig (einer der Gründe, warum der Säbel für die Truppe relevanter war als der Degen). Kontext Sport: Hier kann man mehr riskieren. Und so geht es weiter...
Fechtschulen waren präzise Werkzeuge für genau definierte Zwecke. Kann man auch die Schule die für ein Duell gedacht ist, mit der für den Strassenkampf gedachten kombinieren? Ja, aber praktisch lernt man dann einfach zwei Schulen, die man dann eben beide beherrscht - und je nach Kontext auch separiert anwendet.
Das Ergebnis dieser Überlegung: Ich muss mich fragen, was ich mit der Waffe in der Hand simulieren möchte. Und ausgehend davon prüfen, welche Schule am besten auf dieses Einsatzgebiet angepasst ist. Oder: Es gibt nicht die beste Schule. Es gibt lediglich die beste Schule in einem bestimmten Kontext. Und das führt uns zur vielleicht wichtigsten Frage...
In welchem Kontext fechte ich?
Es gibt heute mehrere Strömungen des Fechtens "als wäre die Waffe scharf und spitz". Die definierenden Fragen dazu sind zwei: Wann fechte ich und wann habe ich Fechten gelernt.
Historisch korrekt / traditionelles HEMA. "Fechter in der Vergangenheit".
Wenn ich fechte, stelle ich eine Situation in der Vergangenheit dar. Wann, wo und die Umstände der Begegnung sind fest definiert soweit sie die Situation beeinflussen. Wenn Regeln dokumentiert sind, muss ich mich diesen fügen. Wo es keine definierten Regeln gab, kann versucht werden, die Fechter durch Regeln so zu leiten, dass sie trotz fehlender Gefahr vorsichtiger fechten. Den Fechtern dieser Kategorie sind die konkreten Ergebnisse oft zweitrangig - eine gute, eigene Leistung ist das wichtigste Ziel.
Schon aus der Definition ist klar, dass historisch korrekte Fechter nur Schulen wählen werden, die es zu ihrem gewählten Zeitpunkt auch wirklich gab.
Historisch inspiriert. "Zeitreisender".
Möchte ich mein heutiges Wissen in die Vergangenheit mitnehmen, und dort damit Gefechte gewinnen, dann muss meine Schule nicht historisch korrekt sein. Sie muss nur unter den historisch korrekten Randbedingungen dominieren.
Das kann darüber geschehen, dass ich eine Schule wähle, die sich unter diesen Bedingungen bereits bewährt hat (damit nähere ich mich wieder dem historisch korrekten Fechter an), oder darüber, dass ich eine in der heutigen Zeit zusammengesetzte Schule fechte. Diese neuere Schule kann freilich aus alten Techniken zusammengesetzt sein. Fechter dieser Kategorie gehen davon aus, dass ihre Schule den damaligen einen Schritt voraus ist, da sie auf viel mehr Wissen als die damaligen Fechter zurückgreifen können. Diesen Fortschritt durch Wissen zahlt man freilich damit, dass man sich nie sicher sein kann, ob die eigene Schule wirklich duelltauglich ist - sie musste sich ja nie im Ernstfall beweisen.
In der Neuzeit / "modernes" HEMA [5].
Stelle ich mir die Regeln für meine Gefechte so zusammen, wie ich sie für gut und richtig halte, und messe ich mich dann mit diesen, erstelle ich im Prinzip einen Duellkodex für die Moderne. Das selbe gilt, wenn ich die Bequemlichkeiten der Neuzeit in meiner Fechtweise ausnutze: Z.B. dadurch, dass ich einen Hallenboden und griffiges, modernes Schuhwerk für meine Beinarbeit voraussetze [6].
Das hat mit der Vergangenheit erstmal nichts mehr zu tun. Denn jetzt agieren wir in einem Kontext, für den keine der historischen Schulen entwickelt wurden. Klar, eine der alten Schulen könnte zufällig ein Volltreffer für diesen Kontext sein. Die Chance ist jedoch hoch, dass wir uns für diesen Kontext ein neues Werkzeug schaffen müssen.
Das ist etwas für kreative Köpfe. Und hochspannend, vor allem für Trainer: Wir können uns eine eigene Schule entwickeln! Zwar können wir auch diese nicht im Ernstfall testen, aber hier haben uns die historischen Schulen nichts voraus - sie wurden in diesem modernen Kontext ja ebenfalls nicht mit scharfen Waffen getestet. Wir können hier also tatsächlich eine Fechtweise entwickeln, die potentiell besser für den "modernen" Ernstfall geeignet ist, als alles vorhandene. Nur mit Sicherheit können wir auch hier nicht sagen, ob die Schule letzten Endes bestehen könnte... das bleibt den historisch korrekten Fechtern in ihrer Epoche vorbehalten.
Geht es mir nur um Ergebnisse im modernen Kontext können wir das sogar als den Haupt-Anwendungsfall definieren und dann ganz konkret die Schule darauf testen. Doch dann sind wir definitiv beim Sportfechten angelangt.
Was ist also die beste Schule?
Es kommt darauf an.
Es ist diejenige, die am besten zu dem Kontext passt, in dem sie eingesetzt wird. Nachdem verschiedene Fechter auch unterschiedlich denken und instinktiv zu anderen Reaktionen tendieren ist es nicht unwahrscheinlich, dass die "besten Schulen" sogar für Fechter im selben Kontext unterschiedliche sind.
Für mich als Trainer ist es außerdem wichtig, dass die Schule effizient erlernbar ist und auch ohne "Studium" gute Erfolge liefern kann. Dass sie - wenn es historisch korrekt sein soll - gut genug dokumentiert ist um sie zu lehren. Dass sie das Fechten im eigentlichen Sinne lehrt und nicht nur darauf basiert, dass der Gegner meinen nächsten Angriff noch nie gesehen hat. Je nach Kontext habe ich unterschiedliche Schulen, die ich als meine persönlich "besten Schulen" auffasse.
Viel wichtiger als die beste Schule zu finden... ist vielleicht den Kontext zu identifizieren, in dem wir sie einsetzen wollen...
Quellen:
"La scienza della scherma esposta", Blasco Florio, 1844.
"Systems over Techniques", Russ Mitchel, 2022. Russ vertritt die Ansicht, dass Techniken durchaus in andere Schulen übernommen werden dürfen, warnt jedoch davor, sie ohne Anpassungen direkt zu übernehmen. "Don't fall into the trap of becoming a technique collector".
Das Estoc ist eine der Waffen, die ohne Kontext gerne mal Fragezeichen aufwirft. Die Klinge mag an eine Dreikant-Degenklinge erinnern, die Anwendungsweise der Waffe war jedoch sehr unterschiedlich.
Jim Emmons stellt einen interessanten Vergleich zwischen den zwei unterschiedlichen Ausfallvarianten im Rapier mit und ohne Linkhanddolch in seinem Blog vor: "Marcelli's Annervated Lunge Revisited", 2023.
"HEMA IS DEAD", Russ Mitches, 2022. Nicht wirklich tot, aber anders als von den Urvätern der Szene damals wohl erdacht. Zumindest ein Zweig der HEMA Bewegung durchläuft gerade im Schnelldurchlauf die Entwicklung der Fechtkunst der letzten 100 Jahre - und scheint bei einer Variante des Sportfechtens zu landen.
Die polnische Gruppe Aramis hat der Mischung aus alten und neuen Techniken den Namen "Modernes Klassisches Fechten" verpasst. Wer sich fragt, wie die Mischung moderner und alter Techniken aussehen kann, den möchte ich auf ihre Werbungsvideos verweisen.
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