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Pro und Kontra des vorgebeugten Oberkörpers

Aktualisiert: 29. Juni 2022

Eine Fechterin teilte, nachdem sie mich bei einem Gefecht beobachtet hatte, eine Beobachtung zusammen mit einer Frage mit mir. "Du stehst immer mit leicht nach vorne gebeugtem Oberkörper in der Fechtstellung. Hast du einen bestimmten Grund dafür?" Diese Frage blieb mir aus zwei Gründen im Gedächtnis hängen. Zum einen, weil ich darauf keine für mich komplett befriedigende Antwort geben konnte - oder besser, nur einen kleinen Teil der Antwort. Zum anderen, weil ich diese Auslage unbewusst entwickelt hatte, sie mir anscheinend also irgendeinen weiteren Vorteil in der Praxis brachte - ich diesen aber nicht klar benennen konnte. Heute denke ich, eine passende Antwort gefunden zu haben, zusammen mit den Vor- und Nachteilen einer solchen Fechtstellung.


Ein Fechter in nach vorne gebeugter- und gerader Fechtstellung.
Gerader- und vorgebeugter Oberkörper

Beginnen wir mit der Antwort, die ich damals gegeben habe. Man könnte das Nach-Vorne-Beugen des Oberkörpers auch als ein Zurücknehmen der Flanke bezeichnen. Dadurch entziehe ich dem Gegner die unteren Treffflächen. Eine solche Fechtstellung findet man, nicht zuletzt auch aus diesen Gründen, in den alten deutschen Fechtschulen wie der kreussler'schen, wieder. Zu dem Zeitpunkt der anfangs erwähnten Geschichte war ich gerade dabei, an meinen tiefen Paraden zu arbeiten, nachdem ich festgestellt hatte, dass diese deutlich langsamer und weniger intuitiv kamen, als die oberen. Das Vorbeugen des Oberkörpers könnte dieses Problem unterbewusst kompensiert haben: Mein Gegner hat nun meine schwachen Treffflächen unten nicht mehr zur Verfügung, damit löst sich mein Paradeproblem. Die modifizierte Fechtstellung entzieht meinem Gegner also 2 der 4 möglichen Treffflächen.


Aber es gibt noch eine zweite Auswirkung des Vorbeugens, die nicht so intuitiv ersichtlich ist. Dazu benötigen wir ein wenig Gleichgewichts-Theorie.


Weder möchten, noch können wir ein solches Unterfangen [einer exakten mechanischen Herleitung] auf uns nehmen, und es genügt uns, dem Leser mit einer Annäherung an die Prinzipien der Geometrie und der Mechanik, und den verteilt angemerkten Lehren, zu unterstützen, so dass er eine oberflächliche Idee bekomme, einen leichten Eindruck von den mechanischen Prinzipien, um sich von der Richtigkeit derselben zu überzeugen. Rosaroll Scorza & Grisetti, 1803

Der Fechter spannt, wenn er in der Fechtstellung steht, eine "Grundfläche" mit seinen Fußsohlen auf. Über dieser Standfläche muss sich nun der Schwerpunkt des Körpers befinden, damit der Fechter sicher steht. Ist der Schwerpunkt zu weit vorne, verliert der Fechter das Gleichgewicht und kippt nach vorne um, ist er zu weit hinten, kippt er nach hinten. Die Schwerkraft "zieht" den Körper im Stillstand direkt nach unten, normalerweise eben auf die aufgespannte Grundfläche. Der Fechter steht damit stabil. So weit so gut.


Wenn der Fechter jetzt aber nicht stillsteht, sondern sich bewegt, ändert sich das Bild. Beim Richtungswechsel vom Schritt rückwärts zum Ausfall kommt zur Schwerkraft noch die Trägheitskraft hinzu, die den Körper weiter nach hinten ziehen möchte. Statt direkt nach unten wird der Fechter nun nach schräg hinten gezogen, potenziell außerhalb seiner Standfläche. Wenn das geschieht, verliert der Fechter sein Gleichgewicht nach hinten - er kann einfach nicht abrupt abstoppen und die Richtung wechseln. Klingt kompliziert, aber die Bilder sollten den Punkt recht verständlich verdeutlichen.

Darstellung der Krafteinwirkung auf einen Fechter in Bewegung.

Zurück zur nach vorne gebeugten Fechtstellung. Durch sie verlagere ich meinen Körperschwerpunkt nach vorne. Der Effekt ist, dass mich die kombinierte Schwer- und Trägheitskraft auch nach einem abrupten Abstoppen immer noch durch meine Standfläche zieht und ich das Gleichgewicht behalte. Ich kann also wesentlich schnelleren Richtungswechsel vom defensiven Schritt rückwärts zu einer offensiven Riposte nach vorne durchführen. Diese Theorie ist z.B. auch in Civrny's "Modernes Sportfechten" (1982) erwähnt.


Dieser Vorteil kommt allerdings zu einem Preis. Davon abgesehen, dass die Rechtweite der Riposte durch einen stärker nach vorne gebeugten Körper verringert ist, kehrt sich der Vorteil beim Schritt rückwärts in einen Nachteil beim Schritt vorwärts um. Greift mich ein Fechter in meinen Schritt vorwärts an, kann ich kaum noch rechtzeitig abstoppen und die Richtung wechseln. Und das macht diese Modifikation so riskant.


Natürlich hätte keine Fechtschule Bestand, ohne eine eigene Antwort auf solche Probleme zu finden, und so gibt es auch für dieses Problem eine Lösung in der deutschen Fechtschule. Diese Lösung möchte ich euch nicht vorenthalten - sie ist ein Beitrag von Tobias Zimmermann des Fechtboden Zimmermann in München: "Die Sicherheitshinweise hierzu, die man in diversen Quellen der Kreussler-Linie finden kann, sind: a) Niemals einzurücken, ohne die Klinge des Gegners zu belegen. Somit muss er umgehen, ehe er stoßen kann, was seinen Angriff ins Tempo meines Schrittes von vorneherein weniger gefährlich macht. b) Den hinteren Fuß unbemerkt näher an den vorderen setzen, um so die Reichweite des Ausfalls zu vergrößern, und den vorderen Fuß nur bei Bedarf ebenfalls nach vorne setzen. Dieses Verfahren wird je nach Quelle als "einfaches Avancieren" bezeichnet, das, was man gemeinhin als Schritt vorwärts kennt, wäre dann das "doppelte Avancieren" (gibt aber auch andere Begrifflichkeiten, Fehn nennt das Heranziehen z.B. "Finte mit dem Fuße", die "Gründliche und vollständige Anweisung unterscheidet "Attirieren" und "Avancieren"). Der Vorteil ist, dass man seinen Körper durch das Heranziehen des hinteren Fußes noch gar nicht näher an den Gegner bringt und das Gewicht erstmal auf den vorderen Fuß kommt, wodurch man im Bedarfsfall auch leichter Mensur brechen könnte. Man muss allerdings sehr darauf achten, dass man das subtil macht, sonst telegraphiert man mehr als beim "normalen" Schritt vorwärts."


Die Modifikation - um zum Ursprung der Überlegung zurückzukommen - war also eine unbewusste Präferenz für eine aggressive, schnelle Riposte, auf Kosten der Sicherheit beim Vorrücken. Wobei letzteres - je nach Fechtschule - einen schwer zu kompensierender Nachteil darstellen kann.


Gibt es dennoch eine Existenzberechtigung für den nach vorne gebeugten Körper außerhalb der deutschen Schule? Ja, immer dann wenn ich mich in keiner Vorwärtsbewegung befinde. Die deutsche Schule nutzt den vorgebeugten Körper zum Treffflächenentzug mit reduzierter Beinarbeit und angepasstem Vorrücken. Und der mobilere (und im historischen Kontext eher spätere) italienische oder französische Fechter kann seine Fechtstellung im Rückzug auf die kommende Riposte vorbereiten. Eine weitere Alternative, die wir z.B. in der italienischen Schule Barbasetti's finden, ist, statt den Oberkörper vorzunehmen lediglich die Flanke etwas zurückzunehmen. Dadurch wird die untere Trefffläche ebenfalls entfernt, jedoch ohne das Gleichgewicht damit zu beeinflussen.

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